Eine neue Oberstufe entsteht

Rückblick nach 3 Jahren - geschrieben im April 2019
Jan-Peter Braun (Gründungsschulleiter)

Wir schreiben den 4. August 2016. 65 Schülerinnen und Schüler des ersten Jahrgangs 11 haben sich in der Aula im Willi-Frohwein-Haus eingefunden. Ich gehe langsam Richtung Bühne. Mein Herz schlägt schneller als sonst. Tief atme ich durch. Während ich gehe, lasse ich in wenigen Sekunden die vergangenen 2 Jahre in meinem Kopf Revue passieren.

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Der Grundstein für die gymnasiale Oberstufe wurde zeitgleich mit den ersten Planungen zur Gründung einer weiteren Integrierten Gesamtschule im Landkreis Peine gelegt. Das war im Herbst 2008. In der Gründungsphase der IGS Lengede im Frühjahr 2010 sprach ich wie selbstverständlich davon, dass eine Integrierte Gesamtschule den schulischen Teil der Fachhochschulreife und das Abitur ermöglichen müsse. Eine IGS ohne gymnasiale Oberstufe war für mich nicht denkbar. Unterstützt wurde diese Position von der Elterninitiative IGS Lengede sowie dem damaligen Lengeder Bürgermeister Hans-Hermann Baas sowie einer großen Mehrheit der Lengeder Gemeindepolitik. Landkreisverwaltung und Landkreispolitik hielten sich jedoch mit Aussagen zur Oberstufe äußerst bedeckt. Spätestens bei der Grundsteinlegung unseres Neubaus im November 2012 wurde durch die Aussagen von Vertretern des Landkreises deutlich, dass man nicht mit einer gymnasialen Oberstufe in Lengede plant.

Da die niedersächsische Rechtslage vorsieht, dass eine gymnasiale Oberstufe durch den Schulträger beim Kultusministerium aktiv beantragt werden muss, galt es die kommenden zwei Jahre zu nutzen, politische Mehrheiten für die Oberstufe zu gewinnen.

Anfang 2013 sandte die Schulleitung an wichtige Entscheidungsträger das neunseitige Positionspapier „Einrichtung einer gymnasialen Oberstufe an der IGS Lengede“. Zeitgleich schloss die IGS Lengede strategische Partnerschaften mit der Aueschule Wendeburg und der Oberschule Söhlde. Ende 2013 führte ich umfangreiche Gespräche mit Gutachtern der Fa. Biregio, die beauftragt worden war, eine mittelfristige Schulentwicklungsplanung für den Landkreis Peine zu erarbeiten. Im gleichen Jahr gründete sich die Elterninitiative „Gymnasiale Oberstufe IGS Lengede“, die sich in Gesprächen mit Politik, Verwaltung und durch Öffentlichkeitsarbeit für eine Oberstufe einsetzte. 2014 wurde das o.g. Positionspapier überabeitet und ergänzt. Die Schulleitung nutzte die erste Jahreshälfte 2014, um auf verschiedensten Ebenen dutzende Gespräche mit Vertretern aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft zu führen. Wir fokussierten die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit auf das Thema „Gymnasiale Oberstufe“. Mitte 2014 empfahlen die Gutachter der Fa. Biregio – wie bereits im Jahr 2009 der Gutachter Uflerbäumer – die IGS Lengede um eine Sekundarstufe II zu erweitern.

Die kontinuierlich vorgetragenen sachlichen Argumente der Schulleitung, die klare Öffentlichkeitsarbeit, die hohen Anmeldezahlen, das Engagement der Eltern sowie die eindeutigen Aussagen von zwei externen Gutachtern zeigten Wirkung. Am 2. Juli 2014 beschloss der Kreistag mit deutlicher Mehrheit, die Einrichtung einer gymnasialen Oberstufe beim niedersächsischen Kultusministerium zu beantragen. Die erste und entscheidende Hürde war genommen!

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Ich werde aus meinen Gedanken herausgerissen. Der vordere Teil der Aula ist erreicht. Ich begrüße die mir seit 6 Jahren bekannten Schülerinnen und Schüler des Gründungsjahrgangs in der neu geschaffenen Oberstufe. Vor mit sitzen auch einige mir bis dato unbekannte Jugendliche. Sie wechselten nach Ende von Jahrgang 10 aus umliegenden Realschulen, Oberschulen und Gymnasien in die Lengeder Oberstufe. Keiner der Anwesenden bekommt mit, welch emotionaler Moment dieses für mich ist. „Wir haben die Oberstufe!“, denke ich. Was hier wie eine Selbstverständlichkeit wirkt – und so auch wirken sollte – ist in Wirklichkeit das Ergebnis intensiver Arbeit. Nach der Begrüßung wandern meine Gedanken wieder zurück.

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Bevor die Oberstufe genehmigt werden konnte, stand für uns noch eine Menge Arbeit an. Wir mussten bis Juli 2014 schriftlich nachweisen, dass genügend Schülerinnen und Schüler die Leistungen erbringen werden, um zwei Jahre später in die Oberstufe wechseln zu dürfen. Rückblickend sind wir bei der Prognose eher konservativ gewesen. Es waren Ende 2016 deutlich mehr Schüler, die die Berechtigung zum Übergang in die Oberstufe hatten, als zwei Jahre zuvor von uns prognostiziert. Am 6. Juli 2014 stellte der Landrat den Antrag auf „Errichtung einer Oberstufe an der IGS Lengede zu Beginn des Schuljahres 2016/17“ an die zuständige Dezernentin der Landesschulbehörde. Sowohl die umfangreichen Unterlagen vom Landkreis Peine als auch das detaillierte Zahlenwerk der IGS Lengede waren derart präzise formuliert worden, dass wir ohne weitere Nachfragen am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien 2014 in einem Schreiben der Landesschulbehörde folgendes lesen konnten: „Gem. § 106 Abs. 1, 2 und 8 Niedersächsisches Schulgesetz [wird] die Genehmigung zur Erweiterung der Integrierten Gesamtschule Lengede um eine gymnasiale Oberstufe im Sekundarbereich II zu Beginn des Schuljahres 2016/ 2017 … [erteilt].“ Welch ein Weihnachtsgeschenk!

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Nun begrüßt Frau Böke als erste Oberstufenleiterin der IGS Lengede die 65 Elftklässler. Bereits nach wenigen Sätzen merke ich, mich welch hoher Professionalität sie ihre Aufgabe wahrnimmt. Doch wie kam es eigentlich dazu, dass gerade sie Oberstufenleiterin wurde?

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Rückblick: Mittwoch, 14. Oktober 2015: Das Schulleitungsteam (Hr. Braun, Hr. Knobel, Fr. Jasper) trifft sich zu einer zweitätigen Klausurtagung im Hotel Schönau in Peine. Erstmals dabei ist Fr. Böke. Mit ihrer mehrjährigen Abitur-Erfahrung an einem Berliner Gymnasium, ihren Erfahrungen als Fachzuständige während der ersten Aufbaujahre der IGS Lengede und nicht zuletzt aufgrund ihrer mehrjährigen erfolgreichen Tätigkeit als Jahrgangsleiterin schien sie für die Funktion der Oberstufenleiterin herausragend geeignet zu sein. Rückblickend betrachtet war es eine perfekte Personalentscheidung. Offiziell wurde Frau Böke im Februar 2017 durch die Landesschulbehörde zur Leiterin der Oberstufe ernannt. Doch zurück zur Klausurtagung.

Abgeschirmt von störenden Einflüssen des schulischen Tagesgeschäftes erarbeiteten wir in zwei Tagen das Grobkonzept der Lengeder Oberstufe. Von Anfang an war uns klar, dass wir keine gewöhnliche Oberstufe aufbauen wollten. Getreu unserem 2010 entwickelten Leitbild wollten wir nicht Durchschnitt sein, sondern uns an den Besten orientieren. Wir entschieden uns für das Konzept der Profiloberstufe, das erstmals an der Max-Brauer-Schule in Hamburg im Rahmen eines Modellversuchs der Kultusministerkonferenz konsequent umgesetzt wurde. Diese Schule wurde maßgeblich wegen ihrer innovativen Oberstufenkonzeption im Jahr 2006 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Bereits einige Jahre zuvor hat die IGS Franzsches Feld aus Braunschweig ihre Oberstufe in die Anlehnung an die Max-Brauer-Schule als Profiloberstufe gestaltet. Auch sie wurde Preisträgerin des renommierten Deutschen Schulpreises.

Am zweiten Tag der Klausurtagung setzten wir auf externe Expertise. Wir hatten das für Oberstufen zuständige Vorstandmitglied des niedersächsischen Gesamtschulverbandes eingeladen. Frau Pleye gilt als ausgewiesene Expertin der niedersächsischen Oberstufen an Gesamtschulen. Sie überprüfte unsere Konzeption auf mögliche Probleme und gab uns zahlreiche praktische Hinweise.

Nachdem der Entwurf des Konzeptes der Lengeder Profiloberstufe in den unterschiedlichen schulischen Gremien unter Beteiligung von Eltern- und Schülervertretern ausführlich diskutiert und mit großen Mehrheiten verabschiedet wurde, stellten wir es am 7. Januar 2016 erstmals im Rahmen einer Informationsveranstaltung der Öffentlichkeit vor. Zeitgleich ging die eigenständige Homepage www.profiloberstufe-lengede.de mit ausführlichen Informationen online, es wurden Informationsflyer gedruckt und Pressemeldungen versandt.

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Die Zuweisung der Elftklässler zu ihren Tutorinnen und Tutoren bringt mich zurück in die Gegenwart. Es wird etwas unruhig in der Aula. Erstmals begeben sich Oberstufenschülerinnen und -schüler in die neu geschaffenen hellen Oberstufenräume. Nach kurzer Zeit stehe ich allein in der Aula und denke voller Erleichterung zurück an den Februar des Jahres.

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Wir waren mit unserer Entscheidung für eine Profiloberstufe ein Risiko eingegangen. Zwar war ich vollständig überzeugt davon, dass diese Oberstufenkonzeption gegenüber der klassischen Oberstufe weiteraus mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt. Dennoch stellte ich mir die Frage, ob dieses auch die Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern so sehen. Die Sorge, Zehntklässler der IGS Lengede könnten zu anderen Oberstufen abwandern, stellte sich jedoch nach den beiden Anmeldetagen als unbegründet heraus. Ganz im Gegenteil: Diverse Schülerinnen und Schüler anderer Schulen hatten nicht nur die Info-Veranstaltung im Januar besucht, sondern meldeten sich Anfang Februar zur Profiloberstufe Lengede an.

Es ist Donnerstag, 7. April 2016. Wir haben einen Kleinbus gemietet und fahren mit insgesamt 9 Personen nach Hamburg. Auf dem Programm steht der Besuch der Max-Brauer-Schule, das Gespräch mit Schulleitung, Lehrkräften und Schülern sowie eine eineinhalbtägige Klausurtagung in einem ruhig gelegenen Tagungshaus mit Blick auf die Elbe. Hier konkretisierten wir die Oberstufenkonzeption der Profiloberstufe Lengede und planten die drei Schuljahre des Abiturjahrgang 2019.

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Ich gehe langsam zum Ausgang der Mensa. Es ist mittlerweile vollständig still. Zweieinhalb Jahre ist es her, dass die Oberstufe der IGS Lengede genehmigt wurde, 2 Jahre in denen die Schule weiter gewachsen ist, 2 Jahre in denen das Konzept der Profiloberstufe Lengede gereift ist, 2 Jahre in denen Lehrkräfte, Eltern und Schüler in zahlreichen schulischen Gremien konstruktiv zusammengearbeitet, diskutiert und Entscheidungen getroffen haben. Ohne die vielen Personen, von denen ich nur einige wenige zuvor namentlich genannt habe, würde es die Profiloberstufe Lengede in der heutigen Form nicht geben. Ohne die hoch motivierten Lehrkräfte, ohne die engagierten Elternvertreter, ohne die Schüler dieses Jahrgangs wäre die Schule nicht die, die sie heute ist. Mit einem Gefühl von Dankbarkeit, innerer Überzeugung den richtigen Weg eingeschlagen zu haben und Freude auf die nun anstehenden nächsten drei Jahre des ersten Abiturjahrgangs, schließe ich die Aula hinter mir zu.